Nationalismus


Der Drang nach Unabhängigkeit der Kronländer lag im Wesen der Zeit im 19. Jahrhundert lag. Aber es gab Ereignisse, die diese separatistische Motivation noch beflügelt haben, insbesondere die Hegemonialansprüche von Preußen, die Cisleithanien aus dem früheren Deutschen Bund ausgeschlossen hat und damit die Anschluss-Idee geboren haben.

Wien war anders

In allen europäischen Großstädten kam zu Wanderungsbewegungen der Landbevölkerung. Der Unterschied zu Wien war aber der, dass in den anderen Metropolen die Zuwanderer immer aus einem gleichsprachigen Umland in die Städte strömten und daher etwa so aufgefallen sind wie Steirer in Wien.

Metropolenbildung in Europa

Im Vielvölkerstaat Österreich war die Situation aber eine ganz andere. Mit Ausnahme der Zuwanderer aus den heutigen Bundesländern (das waren übrigens überraschend wenige), kamen alle anderen mit einer anderen Muttersprache in Wien an. Wir müssen uns die Relation vor Augen halten: Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von 400.000 im Jahr 1848 stieg diese Zahl um 2 Millionen auf 2,4 Millionen im Jahr 1914. Wenn wir auch annehmen, dass ein Drittel von ihnen Deutsch sprechend war, bleiben immer noch 1,3 Millionen fremdsprachige. Und auch wenn durch einen starken Assimilationsdruck die gezählte Zahl der „Sprach-Ausländer“ vergleichsweise gering war, musste die gefühlte Zahl der Tschechen sehr groß gewesen sein. Manche Historiker vermuten, dass Wien damals sogar die größte tschechische Stadt überhaupt war.

Es kamen also Menschen, die zeitlebens wegen ihrer Umgangssprache als Fremde wahrgenommen worden sind.

Die Großeltern des Autors kamen beispielsweise als etwa 18jährige nach Wien und alle vier konnten bis zu ihrem Lebensende nur sehr gebrochen Deutsch. Sie hätten jedem Vergleich mit einer heutigen türkischen Großmutter standgehalten. Auch ein Kopftuch war damals nicht unüblich, wie alte Bilder zeigen.

Dieses Nebeneinander verschiedener Sprachen, verbunden mit dem aufkeimenden Nationalismus in allen Lagern, barg jede Menge Sprengstoff, der einen konfrontativen Höhepunkt unter Karl Lueger hatte. Unter keinem Bürgermeister vor und nach ihm wurde die Politik der Hetzte in diesem Ausmaß betrieben als unter dem feschen Karl. Aber das wäre nur ein lokales Wiener Problem geblieben, wenn nicht der alte Herr in Bad Ischl diese nationalistischen Anschläge als Grund für seine Kriegserklärung An meine Völker! am 29. Juli 1913 formuliert hätte.

Diese Nationalismen, die sich im Schmelztiegel Wien besonders hochgeschaukelt haben, waren einer der Auslöser für den Ersten Weltkrieg und leider auch eine wichtige Zutat für den Zweiten Weltkrieg, denn dieses Wiener Biotop der Fremdenfeindlichkeit, und des Antisemitismus war die Kinderstube des jungen Hitler, der zwischen 1906 und 1913 begierig den österreichischen Deutsch-Nationalismus bewunderte und meinte, dass dieser in Wien weit besser ausgeformt sei wie in den deutschen Ländern. Der Unterschied zwischen den beiden Ländern lag in dem „Anschluss“-Gedanken, den es in Deutschland nicht gab.

Und damals war „Anschluss“ keineswegs nur eine Idee der Deutschnationalen, die Idee zog sich durch alle Gruppierungen mit Ausnahme der Monarchisten. Doch nach dem Ersten Weltkrieg gab es keine Partei, die sich nicht dem Anschlussgedanken angeschlossen hätte, was sich auch im ersten Namen der Ersten Republik „Deutschösterreich“ gezeigt hat.

Deutscher Nationalismus

Das Ziel der Deutschnationalen Bewegungen war der Anschluss Österreichs an Deutschland, und diese Idee übernahmen später in der jungen Republik alle im Parlament vertretenen Dateien.

Eine Werbeschrift des Deutschen Schulvereins, 1903
’s Deutschnazionale Dirndl, Gedicht von Peter Rosegger

’s Deutschnazionale Dirndl.
Schwarz roth gold hab ich gern.
Schwarz ist ihr Augenstern,
Roth ist ihr Lippenpaar,
Gold ist ihr Haar.

Gedicht von Peter Rosegger

Burschenschaften

Nach der Revolution von 1848 formieren sich Burschenschaften, von denen viele nach der Niederlage von Königgrätz eine deutschnationale Ideologie annahmen.

So startete auch die junge Republik 1918 mit dem Namen „Deutsch-Österreich“:

Erst der Friedensvertrag von St. Germain 1919 beendete diese Träume. Der Vertrag enthielt den expliziten Ausschluss einer Vereinigung mit Deutschland.

Tschechischer Nationalismus

Volkssport

Die Tschechen hatten vom Beginn an die Idee, vom gesunden Geist im gesunden Körper, denn es formierten sich Turnbewegungen aller Couleurs. Jede politische Ausrichtung hatte ihren Turnverein.

Sokol (national)
Orel: katholisch
DTJ: sozialistisch

Tschechische Schulen

Bereits 1872 wurde der Schulverein Komensky gegründet und feierte 2022 seinen 150-jähringes Bestehen.

In der deutschsprechenden Bevölkerung entstand das Gefühl, dass die deutsche Sprache ins Hintertreffen geraten würde. 1880 wurde als Gegengewicht der Deutsche Schulverein gegründet.

Musik

Einen nicht unwesentlichen Anteil am wachsenden tschechischen Nationalbewusstsein hatten die Komponisten Bedřich Smetana (1824-1884), Antonín Dvořák (1841-1904), Leoš Janáček (1854-1928) und Julius Fučík (1872-1916)

Die Bearbeitung nationaler Motive stand im Zentrum ihrer Kompositionen.

Bei Smetana kann man das Entstehen des Tschechisch-Nationalismus gut nachempfinden, denn Smetana wurde als „Friedrich Smetana“ getauft und erst im Erwachsenenalter nahm er bewusst den Vornamen „Bedřich“ an. Seine Korrespondenz wickelte er bis etwa 1860 in deutscher Sprache ab, danach in tschechischer Sprache.

Karl Lueger

Bürgermeister 1895-1910

Das Bild, das in den Liedern von Heinz Conrads in den 1950er-Jahren von den Tschechen gezeichnet wurde, ist ein beschönigendes Bild im Nachhinein. Die Lage der Tschechen von 1900 entsprach viel eher dem der heutigen Türken in Wien.

Damit ein Christlich-Sozialer in Wien Bürgermeister werden kann, dazu muss man schon das Wahlrecht gehörig „verbiegen“. Es gab damals auch nicht ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, sondern ein Kurienwahlrecht, bei dem die breite Masse nur einen Teil der Sitze bestimmen konnte. Und auch mit diesem Startvorteil musste Lueger zum Mittel der populistischen Agitation greifen, um Stimmen auf dem Rücken der Zuwanderer und Juden zu gewinnen.

Der schöne Karl

Das Kurienwahlrecht, teilte die Bevölkerung in Klassen (Kurien) ein. Diese Gruppen erhielten verschiedene Anzahl von Mandaten. Die vier Kurien in Cisleithanien waren:

  • Großgrundbesitz;
  • Städte, Märkte und Industrieorte;
  • Handels- und Gewerbekammern;
  • Landgemeinden;
  • 1897 kam eine 5. Kurie „Männer ab 24.“ dazu.

1907 gab es das allgemeine Wahlrecht für Männer.

Juden und Tschechen

Juden und Tschechen waren gleichermaßen die erklärten Feinde der Deutsch-Nationalen.

Darstellung der Tschechen und Juden im Vergleich mit dem kleinen Deutschen Michel im Kikeriki „Nach der Volkszählung„, 1911, S. 3
Ein Beispiel für das typische antitschechische Klischee im Kikeriki  (Ein Soldatenliebchen, 1912, S. 9) Während sich der böhmische Soldat kostenlos in der Küche bedient, muss der Deutsche Michel Kostgeld zahlen.

Unter Lueger gab es öffentliche Posten in Wien nur mit deutscher Nationalität, vermutlich die treibende Kraft für rasche Eindeutschungen tschechischer Namen. Die Eindeutschung der Namen dürfte umso wichtiger gewesen sein, je mehr der betroffene Tscheche öffentlich auftrat, sei es als Beamter, Wirtschaftstreibender oder Sportler. (Bei den Mannschaftsaufstellungen des SK Rapid aus den ersten Tagen des österreichischen Fußballs um 1900 finden sich zahlreiche bereits eingedeutschte tschechische Namen.)

Das von Lueger eingerichtete Ritual des „Wiener Bürgergelöbnis“ umfasste einen Schwur auf den „deutschen Charakter der Stadt Wien“, der jedem Neubürger, gleich welch nationaler Herkunft dieser auch immer war, abgenötigt wurde und in weiterer Folge auch getreu praktiziert werden musste. Ansonsten konnten unliebsame Konsequenzen drohen.

Ein Wiener Sprichwort um 1900:
»Es gibt nur a Kaiserstadt.
Es gibt nur a Wien.
Die Wiener san draußen,
die Böhm, die san drin.«

Dieses Sprichwort zeigt die Angst der Einheimischen vor Überfremdung, vor weiteren Zuwanderern, vor allem vor den Tschechen.

Schulwesen

Im Zuge des Nationalitätenkonflikts in der Monarchie verschärften sich die Auseinandersetzungen auch in Wien. »Germanisierung« oder »Slawisierung« waren die Parolen. Der christlich-soziale Bürgermeister Lueger hatte ein einfaches Konzept: »Der deutsche Charakter Wiens« muss aufrechterhalten werden, »eine Zweisprachigkeit darf in Wien nicht aufkommen«. Der Betrieb tschechischer Schulen wurde durch Bürgermeister Lueger teilweise erfolgreich verboten. Um die tschechische Schule am Sebastianplatz gab es zum Teil handgreifliche Konflikte.

Der Betrieb eigener tschechischer Schulen wurde seitens der Stadtverwaltung erschwert, seitens von Niederösterreich begünstigt.

Während der Niederösterreichische Stadthalter die Tore der Komensky-Schule öffnet, wirft sie der Wiener Bürgermeister wieder aus der Schule hinaus.

Der Assimilationsdruck war groß, ebenso diesem Druck entgegengerichteten Parallelwelten.

  • 1872 Gründung des tschechischen Schulvereins Komenský
  • 1883 Erste tschechische Volksschule, Quellenstraße 72
  • 1896 Deutsch als einzige Unterrichtssprache zugelassen
    Tschechische Schulen erhielten kein Öffentlichkeitsrecht
  • 1908 Gewerbliche Fortbildungsschule an der Triesterstraße
  • 1911 Proteste gegen die Tschechen, Schule in der Schützengasse wird gesperrt
Der Deutsche Michel setzt den Schüler, der eine böhmische Schle besuchen will, vor die Tür. „Nein, nein mein lieber Wenzel mir ist in Wien schon das ungeschulte Böhmakeln zuwider.“
Schüler, die sich in der Quellenstraße 72, der damaligen tschechischen Schule für die Abfahrt nach Lundenburg machen, wo sie die Abschlussprüfung ablegen müssen, weil ihre Wiener Schule kein Öffentlichkeitsrecht bekommen hat.

Lueger: »Ich werde strenge darauf sehen, daß hier in meiner Vaterstadt Wien nur eine deutsche Schule existiert und gar keine andere.«

Am 13. Mai 1912, dem Festtag des Deutschen Schulvereins, zertrümmerten Wiener Schulkinder einer vierten Volksschulklasse die Fensterscheiben der verbarrikadierten Komensky-Schule – und wurden dafür nicht bestraft. Am 3. November 1912 demonstrierten 4000 Wiener mit der Parole: »Nieder mit der tschechischen Schule!« Das Problem blieb bis 1918 ungelöst.

Umgang mit den Fremden

Die Vermischung der Nationalitäten, die in der Donaumonarchie seit Jahrhunderten normal war, wurde nun plötzlich als Bedrohung für das »eigene Volkstum« betrachtet.

Im tagtäglichen Nationalitätenkampf der Donaumonarchie wurden diese Theorien als gefährliche Munition verwendet und waren weit extremer als in den benachbarten Nationalstaaten, einschließlich des Deutschen Reiches.

»Darvinismus« und »Kommunismus«

Schönerer: »Man hat verlernt, den Wert der Zucht zu schätzen, d, h. zu wissen, daß jede edle Art nur das Erzeugnis einer planmäßigen Züchtung unter strenger Auswahl der zu paarenden Individuen sein kann. Die Phrase von der Gleichheit aller Menschen hat die Hirne umnebelt. Die gepriesene Verkehrsfreiheit erleichtert das Durcheinanderfluten fremdartiger Volksmassen…«“

»Herrenmensch« und »Untermensch«

Florian Albrecht in der Flugschrift: Der Kampf gegen das Deutschtum in der Ostmark von 1908
Die Losung der Deutschösterreicher müsse sein: »Österreich ist deutsch oder es ist nicht!«

Einer jener Liberalen, die sich vehement gegen die Verknüpfung von Politik und Kirche aussprachen, war Tomáš G. Masaryk. Er meinte im Reichsrat am 4. Juni 1908: »Die christlichsoziale Partei ist eine politische Partei, und das ist das Schlimme an ihr, daß sie immer im Namen Gottes und der Religion spricht. Diese ihre ganze Vorgangsweise muß aber die Kirche und die Religion kompromittieren. Diese Partei will einfach Österreich, da alle anderen Länder in ihrer Entwicklung schon weiter sind, zur Hochburg der aristokratisch-hierarchischen Theokratie machen.«

Hitler 1941: »Was Wien schwierig macht, ist die Verschiedenartigkeit des Blutes in seinen Mauern. Die Nachkommen aller der Rassen, welche das alte Österreich umfaßte, leben dort, und so hört jeder auf einer anderen Antenne, und jeder hat einen anderen Sender!«

An Deutlichkeit vor allem gegenüber den Tschechen ließ es der Bürgermeister nicht fehlen, so, wenn er im Herbst 1909 in einer Bürgerversammlung ausrief: »wessen Brot du ißt, dessen Lied du singst, dessen Sprache du sprichst. Ich weiß, daß es Tschechen gibt, welche unter keiner Bedingung sich beugen wollen; die sich nicht beugen, die müssen halt gebrochen werden. Hier in Wien und Niederösterreich gilt und herrscht die deutsche Sprache.«

Allerdings – und hier zeigte sich Luegers politische Vernunft: wenn sich die Einwanderer assimilierten und rechtschaffene »deutsche« Bürger waren, bot ihnen der Bürgermeister Schutz und Hilfe unter dem berühmten Motto: »Laßt mir meine Böhm in Ruh«.

Die Brigittenauer Bezirksnachrichten klagten über deren offensichtlichen Erfolg und Geschäftseifer: Die tschechischen Banken hatten von acht Uhr früh bis sieben Uhr abends geöffnet, die deutschen dagegen nur von neun bis vier Uhr. Außerdem lockten die Tschechen mit höheren Zinsen.

Die Rufe wurden lauter, Einheimische in Spitälern und Waisenhäusern zu bevorzugen und bestimmte Gruppen auszuschließen, so Ostjuden und Slawen.

So beschloss der akademische Verein zur Pflege kranker Studierender, Ausländern, Juden und Tschechen die vierfachen Beiträge abzuverlangen. Dies kommentierte die zionistische Neue National-Zeitung erbost: »Ein sozialer Verein kann doch nicht dazu geschaffen worden sein, nationalen Gelüsten zu dienen… und noch dazu, wenn man arme Juden vom Verein ausschließt, nachdem man vorher bei reichen Juden mit Erfolg um Spenden angesucht hat!«

1911 wiesen der Christlichsoziale Bürgermeister Josef Neumayer und der Magistrat der Stadt Wien die städtischen Kinderübernahmestellen an, an Pflegeeltern nichtdeutscher Nationalität keine magistratischen Kostkinder mehr zu vergeben und „solchen Parteien, bei welchen der Verdacht der böhmischen Umgangssprache vorliegt, die Kostkinder sofort abzunehmen“

Push-Backs

Nach Wien zugewanderten Personen – egal welcher Nationalität, nicht nur Tschechen – drohte die Abschiebung in ihre Heimatgemeinde, wenn sie verarmten oder obdachlos wurden; nur die Heimatgemeinde war zu sozialer Hilfeleistung verpflichtet. Die Erteilung des Heimatrechts in Wien wurde ab 1863 stark eingeschränkt.

1880 etwa wurden 7.051 Personen aus Wien abgeschoben: 2.222 Personen nach Böhmen, 1.503 nach Mähren, 225 nach Schlesien, 139 nach Galizien, 900 nach Ungarn und 312 nach Deutschland.

Ein am 28. März 1900, in der Amtszeit von Karl Lueger, in Kraft getretenes, vom Niederösterreichischen Landtag beschlossenes Gemeindestatut zwang jeden Staatsbürger, der um das Bürgerrecht in Wien ansuchte, vor dem Bürgermeister einen Eid unter anderem darauf abzulegen, dass er „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht halten wolle“.

Widersprüchliche Volkszählungen

1914 hatte Wien 2,4 Millionen Einwohner und hatte sich in 60 Jahren versechsfacht. Die zwei Millionen Zuwanderer könnten je zur Hälfte aus den deutsch-sprechenden Kronländern und den böhmisch-sprechenden gekommen sein, das ergäbe etwa eine Million Tschechen in Wien.

Die jährlichen Volkszählungen ergaben aber etwa nur 400.000 Tschechen. Auch mit dieser viel geringeren Zahl wäre Wien nach Prag die zweit größte tschechische Stadt überhaupt gewesen.

Man kann aber ruhig annehmen, dass Wien um1900 die größte tschechische Stadt überhaupt war. Die deutsch-national geprägte Stadtregierung übte einen großen Germanisierungsdruck aus und führte die Volkszählungen immer im Dezember durch, wohl wissen, dass in diesem Monat die meisten Tschechen in den Ziegeleien und am Bau zurück in ihre Heimatdörfer fuhren. Man nannte sie deswegen auch „Böhmische Schwalben“.