Šesták-Bezirk


Vor 200 Jahren gab es „Favoriten“ nicht; auch nicht den Namen. Das Gebiet des Wienerbergs und des Laaerbergs war völlig unbewohnt. Die Flurnamen verweisen manchmal auf die Grundeigentümer. Der Grund für die geringe Nutzung war die Wasserknappheit in diesem Gebiet. Es gab keine Bäche, die man aber für die Landwirtschaft und den Haushalt gebraucht hätte.

Lediglich Ziegeleien bestanden schon im frühen 19. Jahrhundert am südlichen Abhang des Laaerbergs und Wienerbergs. Doch diese Betriebe waren abgeschlossene Welten, die Menschen arbeiteten und lebten am Werksgelände.

Ankunftsbahnhöfe

Die Ankunftsbahnhöfe für die Arbeitsmigranten aus dem Norden und Nordosten waren der Franz-Josefs-Bahnhof, Nordbahnhof und der Nordwestbahnhof:

Es kamen Mährer, Böhmen, Gallizier (vor allem Juden). Weniger Slowaken, denn die gehörten zu ungarischen Reichshälfte.

Unbegleitete Jugendliche wurden gleich am Bahnhof von Gewerbetreibenden als Lehrlinge rekrutiert. Migranten ohne Ausbildung landeten in den Ziegelwerken oder am Bau.

Analphabetismus

Weil viele dieser Wirtschaftsmigranten nicht lesen und schreiben konnten, wurden die Straßenbahnen (Straßenbahn Wien) anfangs mit farbigen Signalscheiben gekennzeichnet. Mit zunehmender Dichte des Straßenbahnverkehrs musste auf Buchstaben und Zahlen übergegangen werden.

Signalscheiben der städtischen Straßenbahnen

Wohnungsnot

Etwa ein Viertel der Bevölkerung hatte keine Wohnung und lebte als Untermieter oder Bettgeher. Ein Bett wurde für zwei Personen (Tag und Nacht) genutzt.

Linienwall

Seit 1704 bestand die äußere Stadtmauer, der Linienwall, anfangs als Schutz gegen die Kuruzen.

Das heutige Gebiet von Favoriten lag vollständig außerhalb der zweiten Stadtmauer, dem Linienwall, der „Linie“. Die heutige innere Favoritenstraße war bebaut, allerdings handelte es sich oft noch um landwirtschaftliche Betriebe.

Favoriten 1829
Franziszeischer Kataster (Interaktive Landkarte) 

Die heutigen Straßenzüge von Favoritenstraße und Laxenburgerstraße kann man schon erkennen, ebenso den Verlauf der Gudrunstraße und den Waldmüllerpark, damals Matzleinsdorfer Friedhof.

Die heutige Laxenburgerstraße war schon damals die Verbindungsstraße zwischen den kaiserlichen Schlössern Favorita und dem Laxenburg.

Lediglich die Spinnerin am Kreuz war eine weithin sichtbare Orientierungshilfe in den Wiesen und Feldern des Wienerbergs. Einzelne bewirtschaftete Flächen kann man als Ziegeleien deuten. Die Flurnamen „Favoritner Felder“ und „Marxer Felder“ deuten darauf hin, dass Bauern, die in gleichnamigen Stadtteilen innerhalb der Linie dort Felder bewirtschafteten.

Entlang dieser Verteidigungslinie wurden im 18. Jahrhundert zahlreiche Kapellen zu Ehren des böhmischen Schutzheiligen Johannes-Nepomuk errichtet, die im Volksmund den Namen „Hansl am Weg“ erhalten haben.

Beispiel für ein Johannes-Nepomuk-Marterl in Simmering, Am Kanal, bekannt als „Johannesstöckl“

Der Linienwall verlief eigentlich zwei Kilomater stadteinwärts. Dass dieses Marterl an dieser Stelle steht, ist auf den hier verlaufenden Wiener Neustädter Kanal zurückzuführen und den Umstand, dass Johannes Nepomuk als Brückenheiliger verehrt wird und hier der Kanal über eine Brücke geführt wurde.

Verzehrsteuer

Im 19. Jahrhundert wurde diese Befestigungslinie zu einer Steuergrenze umfunktioniert. Wer Waren in die Stadt brachte, musste an der Linie (am Linienwall) bei den Linienämtern (Linienamt) das Liniengeld (=Verzehrsteuer) bezahlen. Wenn jemand einen Laib Brot mit sich geführt hat, musste er diesen versteuern, es sei denn, es hat schon ein Stück davon gefehlt.

anno

Die für die Einhebung der Steuer zuständigen Beamten nannte man wegen der Farbe ihrer Uniform Spinåtwåchter. 1873 wurde außerhalb der Linie die Gürtelstraße errichtet. Da diese Steuer eine wesentliche Einnahmequelle für die Stadt war, blieb der Wall bis 1893 bestehen und wurde erst ab März 1894 abgerissen. Das bedeutete aber nicht das Ende der Steuer. Vielmehr wurden die Linienämter weiter stadtauswärts verschoben.

Bahnbau

1840-1845 entstanden am Gelände des heutigen ERSTE-Campus – etwa auf der Höhe der Momsengasse zwei Bahnhöfe, der Gloggnitzer und der Raaber Bahnhof. Baugeschichte Südbahnhof

Bahnhofsgebäude 1841-1869
Links: Raaber Bahnhof,
Mitte: Verwaltung und Restauration,
Rechts Gloggnitzer Bahnhof

Siedlung vor der Favorita-Linie

Das Personal siedelte sich am Beginn der heutigen Favoritenstraße an, weil das Leben vor der Linie einfach billiger war. Man nannte das Gebiet „Siedlung vor der Favorita-Linie“ nach dem Schloss Favorita (heute Theresianum) an der unteren Favoritenstraße.

Luftbild des Gloggnitzer und Raaber Bahnhofs mit Verwaltungsgebäude.
Von Autor/-in unbekannt – Geschichte der Eisenbahnen der Österreich-Ungarischen Monarchie, Karl Prochaska, 1898, Band 2, S. 330, Bahnhöfe der Wien-Gloggnitzer Bahn in Wien

Das Gebiet wurde anfangs vom vierten Bezirk, nach der Bezirksteilung auch vom fünften Bezirk verwaltet.

Einen weiteren Bevölkerungsschub brachte der Bau des Arsenals 1840-1856 als erste Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse der Revolution 1848.

Diese beiden Großprojekte, die Errichtung der Bahnhöfe und des Arsenals waren der Motor für die Errichtung der „Siedlung vor der Favorita-Linie“. Das Personal für diese Betriebe stammte überwiegend aus Böhmen und Mähren.

Favoriten

10. Wiener Bezirk, 1874

Das Wachstum von Wien in der Gründerzeit war atemberaubend. Die Bevölkerungszahl desselben Gebiets hat sich versechsfacht (von 400.000 auf 2.400.000 EW). 1869, also etwa in der Zeit der Landkarte, zählte man auf diesem Gebiet 22.340 Einwohner. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 waren es 159.241 Einwohner. Die Bevölkerungszahl von Favoriten hat sich in diesen 45 Jahren versiebenfacht, wuchs also noch stärker als Wien als Ganzes.

Im Norden sorgte das riesige Bahnhofsgelände, im Süden die zahlreichen Ziegeleien für hohen Bedarf an Arbeitskräften. Dazu kam, dass das Leben innerhalb der äußeren Stadtmauer teuer war. Es war daher naheliegend, dass die Arbeiterschaft auch in der Nähe der Arbeitsstätten in der billigeren Vorstadt wohnte. Die Verfügbarkeit von Arbeitskräften zog wieder viele weitere Industriebetriebe an.

Die Ziegeleien waren abgeschlossene Welten mit eigenen Spitälern, eigenen Geschäften und eigenen Sozialräumen (das Chadim am Wienerberg erinnert daran). Wohnort und Arbeitsort waren identisch. Ziegelarbeiter wohnten also nicht im Favoritner Wohngebiet.

Favoriten 1872, rot Industriezonen, grün Siedlungsgebiet

1874 wurde diese „Siedlung vor der Favorita-Linie“ als erster Bezirk außerhalb der „Linie“ (Linienwall = heutiger Gürtel) als 10. Bezirk eingemeindet. Die Bezirksgrenzen waren dem anfänglichen Siedlungsgebiet angepasst. Der Bezirk endete östlich im Bereich der Absberggasse.

Šesták (=Sechserl)

Favoriten war eine tschechische Hochburg. Man nannte den Bezirk auch „Šesták-Bezirk“, abgeleitet von dem „Sechserl“ (= 6 Kreuzer), einer kleinen Münze, die symbolisch für das geringe Einkommen der Arbeiterfamilien stand.

  • bis 1857: 1 Gulden = 60 Kreuzer
  • 1857: 1 Gulden = 100 Kreuzer
  • 1892: 1 Krone = 100 Heller (0,5 Gulden)

Wer nach 22 Uhr nach Hause kam, musste dem Hausbesorger ein solches Sperrsechserl für das Aufsperren bezahlen, denn damals hatten die Mieter noch keinen eigenen Haustorschlüssel. Bei der Währungsreform 1857 wurden aus dem Sechserl 10 Kreuzer, doch das änderte nichts am Sprachgebrauch. Robert Stolz verewigte die Münze 1920 in der Operette „Sperrsechserl“. In dieser Zeit war diese Münze schon 63 Jahre nicht mehr im Umlauf aber der Begriff war immer noch Teil der Alltagssprache.

Operette „Das Sperrsechserl“ von Robert Stolz

Das bekannteste Lied aus dem „Sperrsechserl“ ist die Melodie „A klane Drahrerei“. A klane Drahrerei (Noten), A klane Drahrerei (Audio).

„A klane Drahrerei“ von Robert Stolz

Ihre Freizeit verbrachte die böhmische Bevölkerung in den Lokalen im Laaerwald, die nach ihren Kunden Böhmischer Prater genannt wurde. Das Gebiet lag damals außerhalb der Stadt, ein nicht unwichtiger Aspekt für den späteren wirtschaftlichen Erfolg, wie wir noch sehen werden.